Hung Gar = Ein «äusseres» System?

(HIER geht’s zum Originalartikel im Budo International Magazin)

In der Welt der traditionellen Kampfkünste wird ganz allgemein, zwischen äusseren und inneren Stilen unterschieden. Vor allem das originale Hung Gar Kung Fu unserer Familie, wird dabei oft zu den äusseren Stilen gezählt, da die Leute vor allem an grosse, kräftige Armtechniken denken, wenn sie sich mit unserem Stil befassen. Die Tatsachen sehen jedoch etwas anders aus…

Gemäss internationaler Definition (World Kuoshu Federation), sind äussere Stile an hohem Krafteinsatz mit den Körperextremitäten erkennbar; innere Stile hingegen am Krafteinsatz mit dem gesamten Körper (Torso). Innere Stile haben an Turnieren eine höhere Zeitlimite für Formen, weil sie grundsätzlich langsamer ausgeführt werden. Das ist nicht wirklich fair, finde nicht nur ich, sondern auch mein Sifu, Dr. Chiu Chi Ling. Um mit seinen Worten fortzufahren: “Hung Gar, hatte seit eh und je eine weiche und eine harte Seite. Es gibt nicht nur den Tiger, sondern auch den Kranich. Der Ausbildungsweg beginnt ganz klar mit der härteren Seite unseres Stils (je nach Alter des Schülers). Über alles gesehen, kennen wir jedoch alle Seiten. Es steckt viel “Tai Chi” in unserem Hung Gar Kung Fu. Leider kommen aber nur wenige auf diese Stufe, weshalb die breite Masse denkt, Hung Gar sei ausschliesslich ein harter, äusserer Stil. Wären Turniere von Grund auf neu unterteilt, so müsste unser Kung Fu bei inneren und äusseren Kategorien starten dürfen.” Die Welt der traditionellen Kampfkünste, von einem Tag auf den anderen umkrempeln zu wollen, wäre wohl nicht wirklich sinnvoll. Meine Absicht ist jedoch dieselbe, wie die meines Sifus. Nämlich aufzuzeigen, wie vollkommen unser System ist, und dass es nicht nur die harte Seite enthält. Der Weg zum Ziel, führt über das Ausbilden und Vorantreiben eifriger Schüler, welche die Stufe “reiner Härte” übersteigen und “den Kranich” kennen lernen. So möchte ich beweisen, was mein Lehrer schon lange behauptet. Ebenfalls ein wichtiger Teil der Ausbildung für die innere Arbeit, leistet das Qi Gong. Doch später mehr dazu.

Als Erstes steht die Frage im Raum: “Wie kam es überhaupt zu diesem “harten, äusseren” Bild unseres Stils?” Wer sich mit der Geschichte der traditionellen Kampfkünste befasst, stellt fest, dass zu Zeiten der berühmten Shaolin Kloster in Nord-China, “von innen nach aussen” ausgebildet wurde. Das heisst, dass vor allem mit der inneren Haltung, dem Charakter und mit körperbetonten Techniken gearbeitet wurde. Daraus erfolgte, dass nach vielen vielen Jahren des Trainings, “plötzlich” der Punkt kam, an dem der Schüler richtig gut mit den gelernten Techniken kämpfen konnte, vorher jedoch nicht viel damit anzufangen wusste (von einem gesunden Geist und Körper einmal abgesehen). Politische Veränderungen, der Bedarf nach Widerstandskämpfern und dem grundsätzlichen Wunsch, sich möglichst schnell, effizient verteidigen zu können, brachte die Mönche und Kung Fu Meister immer mehr zur Überlegung, dass die Ausbildung schneller zu effizienter Kampffähigkeit führen müsse. Die Ausbildung wurde “umgekehrt” und körperlich hartes Training, sowie schnell zu erlernende Techniken rutschten in den Vordergrund und formten den legendären Ruf der Unbesiegbarkeit der Mönche. Viele, heute wegen ihrer Effizienz im Kampf bekannte Stile, stammen direkt oder indirekt aus dieser Tradition, des südlichen Shaolin Klosters. Schüler meiner Schulen wissen, dass das heute noch genauso ist, wie früher. Der “geistige, weiche” Teil des Weges ist keinesfalls verloren gegangen. Im Gegenteil, er ist wichtiger denn je; ist jedoch in der Ausbildung nach hinten gerutscht und wird zu einem späteren Zeitpunkt unterrichtet. Ich möchte jedoch betonen, wir sprechen von den ersten Stufen der Ausbildung (Weiss-, Gelb-, Orange-, Grüngurt). Der Schüler lernt immer mehr, dass nicht nur versteifte, harte Techniken zum Ziel führen. Spätestens mit dem Abschluss der Grundschule (Schwarzgurt, 1. Dan), befasst er sich vermehrt mit dem geschickten Wechsel beider Seiten. Hart und Weich. Der charakterliche Teil, sowie die Ausbildung des Geistes, sind dabei natürlich allgegenwärtig. Manche Schüler fragen mich, was mit “Qi Gong” gemeint ist und ob nicht dieser Teil, uns zu einem “inneren Stil” macht. Man muss bei diesen Relationen aufpassen. Das zu Beginn Erwähnte, war auf die Definition der World KuoShu bezogen, oder sagen wir, auf das, was das Auge von “aussen” erkennen kann. Wenn ich meine Instruktoren unterrichte und ich davon spreche, die “innere Power” zu aktivieren oder dass sich der Schüler auf die “innere Arbeit” konzentrieren soll, dann geht es nicht um die Bewegung des Torsos oder der Hüfte, sondern um den Fokus, die Konzentration und den Geist. Jeder weiss, dass wenn wir uns ganz allgemein auf etwas konzentrieren und auch geistig Energie investieren, der Erfolg eher garantiert ist. Egal in welcher Hinsicht; sei es bei einer sportlichen Leistung, beim Schreiben eines Tests etc. Die alten Kung Fu Meister, hatten dies längst erkannt und bauten die mentale “Lehrseite” in die Kampfkünste ein. Dieser Teil des Hung Gar Kung Fu, hat das Ziel, die Techniken noch effizienter und stärker auszuführen. Hierbei sprechen wir von den fünf inneren Aspekten unseres Systems: Qi (Energie), Ging (Stärke), San (Geist), Daam (Mut) und Sik (Wissen). 

– Mit Qi (auch “Chi” oder “Hei”) ist die Kraft der Gedanken, der Fokus gemeint, welcher zur Gesundheitsförderung, aber auch zur Mobilisation zusätzlicher Kraft in Kampfsituationen beitragen kann. 

– Mit Ging ist die erarbeitete, verfeinerte Kraft des Ausübenden gemeint. Durch Wiederholung der Übungen und Lenkung des Qi lässt Ging erzeugen, was wiederum eine sehr knappe, effiziente Power bedeutet.

– Mit San ist der (klare) Geist gemeint, welcher in den Augen, der Stimme und allgemein der Qualität des Lebens des Ausübenden sichtbar wird.

– Mit Daam ist der Mut gemeint, oder noch besser “die Abwesenheit von Angst”, was dem Ausübenden hilft, gefährliche Situationen zu bestehen und an seinen Erfolg zu glauben. 

– Mit Sik ist das Wissen um die Umstände gemeint, je besser man sich selbst und den/die Gegner kennt. Wissen bedeutet Sicherheit und die Fähigkeit, gelernte Information zum Erreichen eines Ziels anzuwenden.

Fassen wir also zusammen: Das originale Hung Gar Kung Fu unserer Familie, ist, gemäss Definition, weder ein äusserer noch ein innerer Stil. Er ist beides und bietet eines der komplexesten und vollkommensten, wenn nicht gar DAS vollkommenste, System. Auch im geistigen Bereich. Sprechen wir in unserem Mo Gwoon (“Kriegsraum”, Unterrichtsraum) von innerer Arbeit, meinen wir damit vor allem den Aspekt, welcher das ungeübte Auge, nicht wirklich sieht. Die fünf inneren Aspekte. Mit dem Wachstum meiner Schule und den nachkommenden Dan-Trägern unter meinen Schülern, werden immer mehr Leute sehen, wie echtes Hung Gar aussieht. Sie werden erkennen, dass hart und weich, innen und aussen, gemäss der Philosophie des Yin und Yang, vollkommen Hand in Hand gehen und untrennbar sind, wenn wir vom echtem, traditionellen Hung Gar, der KUNG FU SCHULE MARTIN SEWER, sprechen.